Strukturelle Probleme, schwaches Wachstum und mögliche US-Zollerhöhungen heizen die Diskussionen innerhalb der Europäischen Zentralbank (EZB) um größere Zinssenkungen an. EZB-Vizepräsident Luis de Guindos und Bundesbank-Präsident Joachim Nagel signalisierten, dass sie derzeit stärker über den Schaden potenzieller Zollerhöhungen auf die Gesamtwirtschaft besorgt seien als über die Auswirkung der Inflationsdynamik.
„Nach ihren Aussagen haben sich die Balance makroökonomischer Risiken von Inflationssorgen hin zu Wachstumssorgen gewandelt: Ein Drahtseilakt“, so Zoltan Schaumburger, Portfoliomanager bei Dolphinvest Capital, in seinem aktuellen Monatsbericht.
Der Monat November stand mit der US-Präsidentschaftswahl und den Regierungskrisen in Deutschland und Frankreich ganz im Zeichen der Politik. „Mit einem Präsidenten Trump kehrt etwas die Unberechenbarkeit zurück. Die Euphorie nach der Wahl, vor allem an den US-Aktienbörsen, erstaunt – aber nur auf den ersten Blick“, urteilt Schaumburger. Und weiter: „Seine an Präsident Harding in den 1920er Jahren erinnernden Ideen zu Zöllen sind zwar mittelfristig weder für die brummende US-Wirtschaft noch für die Inflationsbegrenzung tragbar, kurzfristig honorieren die Börsen jedoch jene politischen Impulse, die kompromisslos auf Bürokratieabbau und oberflächliche Wirtschaftsförderung setzen.“
So ist der S&P500 – nach dem bereits sehr erfreulichen Vorjahr – auf dem Weg eine der stärksten Jahresentwicklungen seit 1928 zu erzielen. Den historisch erhöhten Bewertungsniveaus nach zu urteilen, dürfte das zukünftig Ertragswachstum nicht mehr einzig unter den „Magnificent 7“-Aktien zu verteilen sein. „Vielmehr wird mit einer fundamental gerechtfertigten Verbreiterung der Wirtschaftsdynamik gerechnet, was insbesondere zyklische Werte und kleine sowie mittelständische Unternehmen unterstützen sollte“, erläutert der Experte.
Laut Schaumburger fördere die US-Notenbank Fed derzeit das Narrativ der robusten Wirtschaft: „Die jüngsten Äußerungen des Fed-Chefs Powell, dass die Zentralbank in der aktuellen Wirtschaftsentwicklung keine Signale sehe, deuten nicht auf eine schnelle Zinssenkung hin.“ Und so überrasche es nicht, dass Marktteilnehmer hinsichtlich des kommenden Zinsschrittes am 18. Dezember derzeit noch unschlüssig seien und die Wahrscheinlichkeit einer Zinskürzung mit rund 60 % einpreisen.
Die Einschätzung der wirtschaftlichen Dynamik der USA erscheine derzeit besonders anspruchsvoll und gleiche einem weiteren Drahtseilakt – insbesondere, wenn das Narrativ der US-Stärke in den kommenden Monaten Dämpfer erfahren sollte. „Dass eine Fehlinterpretation dabei signifikante Folgen nicht nur für das hoch spekulative Segment der Kryptowährungen, sondern auch für die globalen Aktienmärkte haben könnte, zeigt das derzeitige Gewicht der USA im Weltaktienindex: mit 73 % notieren US-Werte auf einem Rekordstand“, warnt Schaumburger.
Andere Märkte seien der US-Euphorie entweder nur begrenzt oder gar nicht gefolgt – der europäische Aktienindex STOXX600 weist die stärkste Underperformance zum US-Markt seit 29 Jahren auf. „Zu verfahren scheint die Lage, insbesondere in Deutschland“, so der Fondsmanager, und verweist auf den einbrechenden ZEW-Index sowie die Meldungen aus der Automobil- und Pharmabranche. Auch den vor kurzem erschienen Bericht der Bundesbank versteht Schaumburger als Warnung: „Der Bericht spricht von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Anzahl an Insolvenzen für das Jahr 2025."