Viele Produkte und Dienstleistungen sind auf die Bedürfnisse und Anforderungen eines durchschnittlichen Mannes angepasst. Das gilt auch für den Mobilitätsbereich.
Wissenschaftlerinnen der Institute für Verkehrsforschung sowie für Fahrzeugkonzepte am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben in einer Studie festgestellt: Schon bei der Planung und Gestaltung von Verkehrsmitteln und Mobilitätsangeboten werden die unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern oft nicht ausreichend berücksichtigt. Dieser „Mobility Design Gender-Gap“ zeige sich – so die Autorinnen der Studie – vor allem in den Bereichen Sicherheit, Funktionalität, sanitäre Bedürfnisse und Komfort.
Das kann dazu führen, dass Frauen mit bestimmten Verkehrsmitteln weniger zufrieden sind und sie deswegen weniger nutzen. „Es ist wichtig, dass wir die Bedürfnisse und Anforderungen von Frauen kennen, damit sie bei der Gestaltung von Verkehrsmitteln miteinbezogen werden können. Sonst gehen Angebot und Bedarf aneinander vorbei“, fassen die DLR-Forscherinnen Dr. Laura Gebhardt, Sophie Nägele und Mascha Brost zusammen.
Maßstab ist der Durchschnittsmann
Gurte und Airbags in Autos werden für einen durchschnittlichen Mann ausgelegt. Männer sind jedoch im Schnitt größer und haben einen anderen Körperbau als Frauen. Zum Beispiel sind Muskel- und Fettgewebe anders verteilt. Auch Crashtest-Dummys – die Puppen, die EU-weit bei Versuchen zur Fahrsicherheit eingesetzt werden – haben meist männliche Körpermerkmale. Bei vergleichbaren Unfällen haben angeschnallte, weibliche Personen deshalb ein höheres Risiko für schwere Verletzungen. Neben dieser sicherheitsbezogenen Problematik kann die Position des Sitzes für Frauen eine Herausforderung darstellen. Der Abstand des Sitzes zu den Pedalen lässt sich zwar einstellen, befindet sich der Sitz jedoch ganz vorne, ist das Lenkrad oft zu nah und der Sicherheitsgurt schlecht zu erreichen.
„Ein Auto kleiner und bunter zu machen, reicht nicht aus, um die Funktionalität des Verkehrsmittels für Frauen zu verbessern. Wir brauchen neue und flexiblere Lösungen, welche die Unfallsicherheit gewährleisten und die Anforderungen einer großen Bandbreite von Nutzenden erfüllen“, sagt die Leiterin der Studie Dr. Laura Gebhardt.
Frauen fahren häufiger in Bussen und Bahnen als Männer. „Zum einen steht Frauen statistisch gesehen weniger häufig ein Auto zur freien Verfügung. Gleichzeitig sind sie eher offen dafür, nachhaltige Verkehrsmittel zu nutzen“, erläutern die DLR-Forscherinnen. Mit Blick auf diese Faktenlage ist es unvorteilhaft, dass öffentliche Verkehrsmittel die spezifischen Mobilitätsanforderungen genau dieser Zielgruppe häufig nicht ausreichend erfüllen.
Andere Mobilitätsanforderugen
Eine wesentliche Mobilitätsanforderung betrifft die Flexibilität. Denn Frauen haben im Durchschnitt deutlich komplexere und kleinteiligere Wege als Männer. Der Grund dafür liegt oft in der Kombination von Erwerbstätigkeit und so genannter Sorgearbeit, die bei Frauen häufiger vorkommt als bei Männern. Dazu zählen die Kindererziehung oder die Pflege älterer Menschen. Als Teil der Sorgearbeit müssen oft Transportaufgaben erledigt oder sperrige Gegenstände wie zum Beispiel Kinderwägen, Rollstühle, Fahrräder oder Einkäufe mitgeführt und sicher verstaut werden. Für Frauen sind deswegen Aspekte wie ein einfacher, möglichst höhengleicher Einstieg in ein öffentliches Verkehrsmittel sowie ausreichend und einfach erreichbarer Abstell- und Stauraum von großer Bedeutung. Sind diese Aspekte nicht gegeben, lassen sie sich teilweise durch die eigene körperliche Kraft kompensieren – indem beispielsweise ein Kinderwagen oder ein Fahrrad in ein öffentliches Verkehrsmittel hinein- oder Gepäck in Ablagen hinaufgehoben wird. Das ist für den durchschnittlichen Mann leichter möglich als für Frauen. Diese werden dementsprechend durch einen schlecht gestalteten Einstieg oder schwer erreichbaren Stauraum deutlich stärker in ihrer Mobilität beeinträchtigt.
Ist der Einstieg überwunden, finden sich auch in den Innenräumen öffentlicher Verkehrsmittel Einschränkungen, von denen Frauen besonders betroffen sind: Haltestangen oder Halteschlaufen sind für viele Frauen zu hoch angebracht, um sich sicher daran festzuhalten. Weitere und niedrigere angebrachte Möglichkeiten zum Festhalten – auch für Menschen mit geringerer Griffkraft – sollten in Zukunft stärker berücksichtigt werden.
Unterschiedliche Komfortbedürfnisse
Als wie komfortabel Menschen Busse und Bahnen empfinden, hängt von vielen unterschiedlichen Aspekten ab. Dazu zählen unter anderem die Sitzgestaltung oder die Temperatur in Verkehrsmitteln. Frauen und Männer haben durch ihre körperlichen Gegebenheiten unterschiedliche ergonomische Anforderungen an Sitze, beispielsweise an die Sitzhöhe oder die Ausführung von Armlehnen. Hohe Sitze erschweren vor allem bei kleineren Menschen das Abstellen der Füße, was gerade bei langen Fahrten unkomfortabel sein kann. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang laut DLR-Studie die Fahrradindustrie: Sie hat in den vergangenen Jahren viel Arbeit in variable Sattelkonfigurationen gesteckt und bietet mittlerweile komfortable Sättel für eine große Vielfalt menschlicher Körper an.
Neben ergonomischen Aspekten ist die Temperatur ein weiterer Faktor, der das Mobilitätserlebnis von Frauen beeinträchtigen kann. Frauen haben ein anders Temperaturempfinden als Männer. Das führt dazu, dass ihnen die Temperatur in öffentlichen Verkehrsmitteln oft zu niedrig ist.
Bei der Hygiene öffentlicher Verkehrsmittel haben Frauen tendenziell höhere Anforderungen als Männer, vor allem an Sanitäranlagen. Sie müssen häufiger auf die Toilette gehen. Sie haben durch Schwangerschaft, Menstruation oder Menopause auch komplexere Ansprüche an die Gestaltung sanitärer Anlagen. In öffentlichen Verkehrsmitteln ist in der Regel vorgesehen, dass alle Fahrgäste dieselben sanitären Anlagen nutzen. Deshalb meiden Frauen oftmals Busse und Bahnen, längere Strecken oder schränken sich ein. Dazu zählt, dass sie häufig vor langen Fahrten nichts trinken, um nicht auf die Toilette gehen zu müssen.
Frauen fühlen sich unsicherer
Die Wahrnehmung der eigenen Sicherheit ist ein zentraler Faktor dafür, ob bestimmte Fahrzeuge und Verkehrsmittel genutzt oder gemieden werden. In öffentlichen Verkehrsmitteln fühlen sich Frauen unsicherer als Männer – und sie sind es auch. Zudem nehmen sie das soziale Miteinander anders wahr, fühlen sich zum Beispiel durch Menschen mit lautem oder aggressivem Auftreten stärker bedroht. Einen negativen Einfluss auf das Sicherheitsempfinden haben auch verbale, anzügliche Belästigungen („Catcalling“), angestarrt zu werden oder das breitbeinige, raumübergreifendes Sitzen männlicher Mitfahrer („Manspreading“). Vor allem nachts nehmen Frauen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel als unsicherer wahr und legen aus Angst weniger Wege zurück als Männer.
Mit Wissen die Lücke schließen
„Um den Mobility Design Gender Gap zu schließen und bessere Lösungen zu gestalten, brauchen wir mehr Forschung zu geschlechtsspezifischen Bedürfnissen, Verhaltensweisen und Präferenzen“, erläutern die DLR-Forscherinnen. Dieses Wissen gelte es dann adressatengerecht zu vermitteln, zum Beispiel in Form von Leitfäden für Industrie, Verwaltung und Politik. Zusätzlich wünschen sich die drei Autorinnen attraktive Karrieremöglichkeiten und mehr Frauen in Entscheidungspositionen auch im Verkehrssektor.
Um erfolgreich zu sein, müssen Mobilitätsangebote attraktive Lösungen für die Anforderungen vielfältiger Zielgruppen bereithalten. Dabei geht es um weit mehr, als von A nach B zu kommen: Auch Anforderungen an Ergonomie, Sicherheit und Komfort sowie Hygienebedürfnisse sollten in die Gestaltung von Mobilitätsangeboten einfließen. Frauen, welche die Hälfte unserer Gesellschaft ausmachen, sollten als Zielgruppe deutlich mehr Beachtung geschenkt werden.
Insgesamt sind die Bedürfnisse und Anforderungen an Mobilität sehr vielfältig und gehen weit über die Dimension „Mann-Frau“ hinaus: Es gilt Anforderungen von Kindern, Älteren, Menschen mit Behinderung oder Menschen anderer Herkunft zu berücksichtigen. „Deshalb brauchen wir kontinuierliche Forschung, mehr Expertise im Bereich der nutzerinnen- und nutzerzentrierten Gestaltung sowie das Mitwirken der Menschen selbst bei der Gestaltung von Mobilitätsangeboten. Es gilt, Kompromisse zu finden. Aber vor allem müssen wir davon wegkommen, als hauptsächliche Referenz einen durchschnittlichen Mann heranzuziehen“, bilanzieren die DLR-Wissenschaftlerinnen. (aum/DLR)
Foto: Autoren-Union Mobilität/DLR