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Geldpolitik unter Wasser: Das Klimaproblem der EZB

... von Océane BALBINOT-VIALE, Sustainable Investment Research Analyst, Crédit Mutuel Asset Management



Was haben Inflation, Staatsanleihen-Spreads und Klimakatastrophen gemeinsam? Zunehmend alles.


Für diejenigen, die immer noch glauben, dass der Klimawandel lediglich ein langfristiges ESG-Problem ist, das nichts mit den kurzfristigen wirtschaftlichen Fundamentaldaten zu tun hat, hat die Europäische Zentralbank (EZB) eine deutliche Antwort gegeben: „Klimabezogene Risiken sind ein unmittelbares Problem für die Finanzstabilität und das Wirtschaftswachstum“[1]. Die Warnung, die im Juli 2025 herausgegeben wurde, ging einher mit einer neuen Analyse auf Basis von Kurzzeitszenarien, die vom Network for Greening the Financial System (NGFS) entwickelt wurden. Diese Analyse zeigt, dass extreme Klimaereignisse, die bereits 2026 einsetzen könnten, das BIP der Eurozone bis zum Ende des Jahrzehnts um bis zu 4,7 % reduzieren könnten. Dies wäre ein Rückgang, der in seiner Größenordnung mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der globalen Finanzkrise vergleichbar wäre. Selbst wenn es keine direkten Klimaschäden in der Region gäbe, könnten indirekte Auswirkungen wie Lieferkettenunterbrechungen in rohstoffreichen Regionen die Produktion im Euroraum dennoch um fast 2 % beeinträchtigen[2]. Ein entscheidender Moment in der Debatte um Klimarisiken: Der Fokus liegt nicht mehr ausschließlich auf langfristigen Aspekten. Tatsächlich werden physische Risiken zu einem makroökonomischen Störfaktor innerhalb investierbarer Zeithorizonte, mit direkten Auswirkungen auf Zentralbanken und das Finanzsystem insgesamt.

Die von der EZB skizzierten besorgniserregendsten wirtschaftlichen Auswirkungen ergeben sich aus einem Szenario mit dem Titel „Katastrophen und politische Stagnation“, in dem eine Reihe klimabedingter Katastrophen (von Hitzewellen und Dürren bis hin zu Waldbränden, Überschwemmungen und heftigen Stürmen) weitreichende physische und wirtschaftliche Schäden auslösen[3]. Die Folgen sind zweierlei: Die Produktions- und Vertriebskapazitäten werden beeinträchtigt, was zu einem Preisanstieg führt, während das Verbraucher- und Investitionsvertrauen sinkt, wodurch die Nachfrage gedämpft wird. Das Ergebnis: Stagflation, eine unglückliche Mischung aus Inflation und niedrigem Wachstum, mit der die Zentralbanken nicht gut umgehen können. Eine straffere Geldpolitik mag zwar wie die klassische Antwort auf steigende Preise wirken, aber wenn man das in einer Zeit macht, in der die Wirtschaft wegen des Klimawandels schrumpft, kann das den Abschwung noch verschlimmern. Wenn man dagegen nichts gegen den Inflationsdruck unternimmt, riskiert man, dass die Inflationserwartungen aus dem Ruder laufen und die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken leidet.

Ein solches Dilemma ist besonders brisant für die EZB, deren vorrangiges Mandat die Preisstabilität ist, die aber gleichzeitig auch für die Wahrung der Finanzstabilität zuständig ist... In einem Szenario, das von physischer Zerstörung, sinkender Produktivität und einer auf die Bewältigung der Katastrophe ausgerichteten fiskalischen Expansion geprägt ist, könnten diese beiden Prioritäten – vielleicht ironischerweise – nicht mehr miteinander vereinbar sein. Der Druck auf die öffentlichen Haushalte, deren Bilanzen ohnehin schon angespannt sind, könnte die Sorgen um die Tragfähigkeit der Verschuldung und die Fragmentierung der Märkte noch verstärken.[4] Dieses Risiko ist für finanzschwache Mitgliedstaaten am größten, auch wenn die Eurozone insgesamt nach wie vor über mehr finanzpolitischen Spielraum verfügt als andere Industrieländer[5]. Die jüngsten Krisen zeigen, dass angesichts systemischer Schocks (wie der Corona-Pandemie oder der russischen Invasion in der Ukraine) die finanzpolitischen Reaktionen zunehmend auf EU-Ebene koordiniert wurden. Es ist daher plausibel, dass auch künftige klimabezogene Ausgaben zumindest teilweise vergemeinschaftet werden. Allerdings könnte sich die Qualität der Assets von Finanzinstituten, die stark betroffenen Regionen oder Sektoren ausgesetzt sind, verschlechtern.[6] Die EZB könnte sich somit gezwungen sehen, zwischen der Unterstützung des Wachstums und der Wahrung der Inflationsdisziplin zu wählen: eine unangenehme Lage für jede Zentralbank, insbesondere jedoch für eine, die in einer politisch heterogenen Währungsunion tätig ist.

Was diese Situation noch schwieriger macht, ist die Tatsache, dass die geldpolitische Transmission angesichts klimatischer Asymmetrien wahrscheinlich nicht neutral bleiben wird. So könnte beispielsweise die Belastung durch Zinserhöhungen der EZB unverhältnismäßig stark auf bereits gefährdete Sektoren fallen - insbesondere auf diejenigen, die sowohl Übergangs- als auch physischen Risiken am stärksten ausgesetzt sind (kohlenstoffintensive Industrien, ressourcenabhängige Fertigung oder klimagefährdete Sachwerte). Gleichzeitig könnten Übergangsbranchen wie erneuerbare Energien oder Energieeffizienztechnologien, die zwar in der Regel hinsichtlich ihrer langfristigen Belastbarkeit erfolgversprechender sind, in einem Umfeld strengerer Finanzierungsbedingungen Schwierigkeiten haben, Kapital anzuziehen. Dies ist keine Spekulation: In einem Arbeitspapier aus dem Jahr 2023 haben EZB-Experten hervorgehoben, dass ein „langsamer ökologischer Wandel” die Verteilungseffekte der Geldpolitik verändern kann[7], was darauf hindeutet, dass die derzeitigen Instrumente möglicherweise nicht mehr in der gesamten Wirtschaft einheitlich die beabsichtigten Ergebnisse erzielen. Diese zunehmende Asymmetrie spiegelt sich auch in den jüngsten operativen Entscheidungen der EZB wider: Im Juli 2025 kündigte die Zentralbank die Einführung eines neuen „Klimafaktors” an, um die Bewertung von Sicherheiten, die bei Refinanzierungsgeschäften verwendet werden, anzupassen[8]. In der Praxis werden Anleihen von Emittenten, die als besonders anfällig für Klimawandelrisiken gelten, strengeren Bewertungsabschlägen unterliegen, wodurch sich ihr Liquiditätswert für Banken verringert. Diese Maßnahme soll das Eurosystem vor klimabedingten Finanzrisiken schützen, könnte jedoch auch die Finanzierungsengpässe in emissionsintensiven Sektoren verstärken und damit die bereits bestehenden Unterschiede in der geldpolitischen Transmission noch weiter verschärfen[9].

Auch Staaten werden sich der zunehmenden Kontrolle durch Investoren wahrscheinlich nicht entziehen können. Die Gefahr einer klimabedingten Verschlechterung der Haushaltslage und einer Neubewertung des Anleihemarktes lässt erneut eine Fragmentierung innerhalb der Eurozone befürchten. Zwar wurden Instrumente wie das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) und das Transmission Protection Instrument (TPI) entwickelt, um ungerechtfertigte Spreads zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern[10] [11], doch bleibt ihre Anwendbarkeit angesichts klimabedingter Divergenzen ungewiss. Während die Inflationserwartungen weiterhin gut verankert sind (die durchschnittlichen Verbrauchererwartungen für 2030 liegen immer noch nahe am EZB-Ziel von 2 %[12]), wird der Klimawandel von den Verbrauchern zunehmend als Treiber des Inflationsdrucks wahrgenommen: Laut einer von PwC im Jahr 2024 durchgeführten Umfrage[13] gaben fast 9 von 10 Verbrauchern an, die disruptiven Auswirkungen des Klimawandels in ihrem täglichen Leben am eigenen Leib zu spüren, und fast ein Drittel nannte die Inflation als das größte Risiko für ihre Konsumgewohnheiten[14]. Das Aufkommen einer gefühlten Verbindung zwischen Klimaereignissen und Preissteigerungen könnte die Inflationspsychologie allmählich verändern – insbesondere wenn extreme Wetterereignisse häufiger auftreten und größere Schäden verursachen. Diese Diskrepanz zwischen tatsächlichen Erwartungen und gefühlten Inflationsfaktoren könnte die Reaktionsfähigkeit der EZB mit der Zeit erschweren.

Für Investoren wie uns haben diese Entwicklungen weitreichende Konsequenzen. Das grundlegende makroökonomische Umfeld, in dem die Geldpolitik agiert, wird durch den Klimawandel neu gestaltet. Dies erfordert eine Neubewertung der Portfoliozusammensetzung, insbesondere im Hinblick auf Staatsanleihen. Euro-Staatsanleihen, die lange Zeit als risikofrei oder zumindest risikoarm galten, könnten eine differenziertere Betrachtung erfordern, die klimabedingte fiskalische Kapazitäten, adaptive Infrastrukturinvestitionen und die politische Polarisierung rund um den Klimawandel berücksichtigt. Ebenso müssen sich die Strategien zur Sektorallokation weiterentwickeln. Neben ESG-Ratings und Klimadaten wird es zunehmend wichtiger, wie stark ein Unternehmen oder ein Sektor dem neuen makrofinanziellen Umfeld ausgesetzt ist. Dieses scheint durch beeinträchtigte Wachstumsmuster, unvorhersehbare Inflation und potenziell strengere Finanzierungsbedingungen gekennzeichnet zu sein.

Daher sollten Klimaszenarien nicht mehr nur in Nachhaltigkeitsberichten oder Stresstests vorkommen. Sie müssen zu zentralen Faktoren für Wirtschaftsprognosen, Asset-Liability-Modelle und langfristige Renditeerwartungen werden. Dabei müssen sowohl Naturkatastrophen als auch langfristige Trends (strengere Regulierung, Ressourcenknappheit usw.) berücksichtigt werden. Ebenso wichtig ist, dass eine klimabewusste Portfoliokonstruktion durch aktives Engagement ergänzt wird. Asset Manager sollten unserer Meinung nach weiterhin auf glaubhaftere Transitionsspläne, eine bessere Offenlegung physischer Risiken und klarere politische Signale drängen. Das Eintreten für wirksame CO2-Bepreisungsmechanismen, taxonomiekonforme Investitionen und eine widerstandsfähigkeitsfördernde öffentliche Politik ist nicht nur eine Frage der Werte, sondern auch der Erhaltung der Finanzstabilität und des langfristigen Werts.

Die Botschaft der EZB ist klar... Und die Zeit drängt. Der Klimawandel ist nicht mehr nur ein langfristiges Nachhaltigkeitsproblem. Er ist eine makroökonomische Realität, die bereits in die operativen Prämissen der Geldpolitik einfließt und das bisherige Finanzsystem zu erschüttern droht. Für Asset Manager bedeutet dies auch, dass sie das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit anerkennen müssen: In einer Welt, in der finanzielle Entscheidungen zunehmend die Klimaentwicklung beeinflussen, müssen Anleger nicht nur bewerten, wie sich der Klimawandel auf ihre Portfolios auswirkt, sondern auch, wie sich ihre Portfolios auf das Klima auswirken. Diese strukturellen Veränderungen zu antizipieren und zu integrieren, ist nicht nur gute Praxis, sondern auch zunehmend entscheidend, um in Zeiten wachsender Unsicherheit eine robuste Performance zu erzielen.

 

Veröffentlicht am: 04.11.2025

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