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Freitag, 29. März 2024
   
 

Unvergessene Weihnachten - die fünfte Geschichte

Mein Weihnachtswunsch: Ein Vater von Ernst Haß



Hamburg-Wilhelmsburg; 7. Mai – Heiligabend 1923

In Hamburg-Wilhelmsburg, am Obergeorgswerderdeich Nr. 9, bin ich aufgewachsen. Das Haus, das wir bewohnten, war eine Kate mit Strohdach. Man nannte diese Fachwerkhäuser auch Häuslings- oder Kötnerhaus.

Wir waren zu Hause zwei Brüder, mein Bruder August, Audi genannt, 1914 und ich, 1913 geboren. Alle Kinder bei uns am Deich hatten einen Vater, nur wir nicht. Ich litt sehr darunter und fragte: „Mutti, warum haben wir keinen Vater?“

Mutter sah mich mit großen Augen an, aber eine Antwort bekam ich nicht. Manchmal weinte sie, wenn ich wieder davon anfing. Als ich gut sechs Jahre alt war, erzählte unsere Mutter endlich, warum wir keinen Vater hatten. Unser Vater war bei der Kriegsmarine. Sein Schiff ging 1917 unter, und dabei ist er ertrunken. „So, Jungens, nun wißt ihr, warum ihr keinen Vater habt“, endete sie. Dabei kamen ihr die Tränen, und sie lief ins Schlafzimmer, um allein zu sein.

Es hat lange gedauert, bis ich dies alles begriff. Ich ging zu Mutter ins Schlafzimmer, umarmte sie und weinte mit ihr um unseren Vater. Dann lief ich aus dem Haus, setzte mich am Deich nieder und weinte weiter. Ich verfluchte diesen Krieg, der uns den Vater genommen hatte.
Am 7. Mai 1923 wurde ich zehn Jahre alt. An diesem Tag sagte ich zu Mutter: „Ich wünsche mir zu Weihnachten einen Vater!“

Mein Bruder wollte lieber eine Eisenbahn haben. Ich konnte ihn aber umstimmen: Er wollte nun zu Weihnachten auch einen Vater haben. Wir umarmten unsere Mutti und versprachen, daß wir ihr keinen Kummer mehr bereiten wollten. Normalerweise stellten wir jeden Augenblick etwas an, und nicht immer ging es gut aus. Unsere Mutter konnte uns kaum mehr in Schach halten, eine feste Hand mußte her.

Als Audi und ich eines Tages von der Schule nach Hause kamen und den Deich hinunterliefen, hörten wir unsere Mutter singen. Das Stubenfenster war offen. Mein Bruder und ich lauschten am Fenster. Wir hatten unsere Mutter noch nie in dieser Art singen gehört. Was hat das zu bedeuten?

Schließlich gingen wir hinein, fielen Mutter um den Hals und schmusten mit ihr. „Mutti, du kannst aber schön singen, das haben wir gar nicht gewußt!“

Unsere Mutter schmunzelte und meinte nur: „Es hat auch seinen guten Grund!“ Aber verraten hat sie uns nichts. Wir brauchten nicht lange zu bitten, dann sang sie uns abends mit ihrer wunderschönen Sopranstimme in den Schlaf. Mein Lieblingslied war „Stolzenfels am Rhein“, weil darin ein gefallener Soldat vorkam. Ich mochte auch das Lied vom Fremdenlegionär, der in maurischer Wüste gefangen war.

Unsere Mutter veränderte sich in dieser Zeit. Sie lief neuerdings immer dem Postboten entgegen. Wenn er mit einem Brief für sie kam, war sie glücklich und hat ihn sofort gelesen. Hinterher sang sie den ganzen Nachmittag wie eine Nachtigall.
Der Monat Dezember rückte näher, es ging auf Weihnachten zu. Mutter fragte uns Jungen: „Was wünscht ihr Euch zum Weihnachtsfest?“

Mein Bruder sagte nun doch wieder, daß er sich eine Eisenbahn wünsche. Als ich an der Reihe war, antwortete ich: „Mutter, was ich mir wünsche, weißt du schon.“
„Ja, Jungens“, sagte Mutter, „dann wollen wir mal sehen!“

Endlich war Heiligabend. Morgens durften wir Jungen den Weihnachtsbaum schmücken. Mit Buntpapier und Kartoffelmehl, aus dem wir Kleister anrührten, hatten wir Ketten angefertigt und in den Tannenbaum hineingehängt. Er sah schön aus! Mutter lobte uns und freute sich. Wir waren stolz auf unser Werk. Dann mußte sie noch einmal schnell weg, um in Niedergeorgswerder etwas einzukaufen.

Lange dauerte es, bis sie völlig außer Atem wieder nach Hause kam. Es wurde schon dunkel. Immer wieder sahen mein Bruder und ich den Deich hinauf – aber der Weihnachtsmann kam und kam nicht, es war nicht mehr auszuhalten!

Mutter meinte, daß der Weihnachtsmann nun bestimmt bald käme. Er hätte soviel zu tun hat, daß er gar nicht all die vielen braven Kinder besuchen könne. Bei uns wollte er aber auf jeden Fall vorbeikommen, wir seien ja artig gewesen, was wir auch hoch und heilig versprochen hatten. Wir hatten am Heiligtag wirklich nichts ausgefressen.

In dem Augenblick, als Mutter plötzlich aufstand und die vier Lichter am Baum anzündete, wummerte es an der Haustür. Mein Bruder bekam nun doch Angst und versteckte sich blitzschnell hinter dem Sofa. Mutter sah mich mit ihren großen Augen an und sagte: „Erni, mein Junge, dann laß mal dein Weihnachten herein!“
Sie hätten sehen sollen, wie schnell ich zur Tür flitzte und sie aufriß!
Draußen stand aber nicht der Knecht Ruprecht, sondern ein großer Mann, der einen Seesack auf dem Rücken trug. Mutter stand hinter mir und forderte mich auf: „Laß ihn man herein!“ und gab dem Mann einen Kuß.

Unglaublich – mein Weihnachtswunsch war in Erfüllung gegangen: Dieser große Mann wurde unser neuer Vater!

Wir waren glücklich, denn nun hatten auch wir endlich wieder einen Papa, so wie alle Kinder bei uns am Deich. War das ein Weihnachten! – das schönste Weihnachtsfest, das ich je zu Hause erleben durfte.



Die Geschichte "Ein Vater" ist in Band 1 der Buchreihe "Unvergessene Weihnachten" aus dem Zeitgutverlag Berlin (Preis:  8,90 Euro, ISBN 978-3-933336-73-6) erschienen.

Foto: Pixabay

 

Veröffentlicht am: 05.12.2022

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